Keine Frage: Was Google sich da vorgenommen hat, ist revolutionär. Zwei Jahre lang hat der Suchmaschinengigant an seinem Betriebssystem Chrome OS gefeilt. Ab diesem Sommer sind die so genannten Chromebooks erhältlich. Diese Laptops mit dem weltweit ersten Cloud-Betriebssystem vertreibt Google zunächst in den USA und fünf europäischen Staaten, darunter auch Deutschland.
Der Gedanke hinter Chrome OS ist simpel: Das Betriebssystem und die Anwendungen, wie wir sie seit Jahrzehnten kennen, verschwinden vom Rechner. Übrig bleibt ein Browser. Dieser soll sämtliche Anwendungen aus dem Netz beziehen. E-Mail-Programm, Textverarbeitung oder Tabellenkalkulation stellt Google als Cloud-Anwendungen bereit. Sie werden weder lokal installiert noch müssen sie gewartet, gepatcht oder mit Updates versorgt werden. Genau wie das Cloud-“Betriebssystem”, also der Browser, pflegen sich die Anwendungen selber. Genaugenommen pflegt Google die Anwendungen in seinen Rechenzentren und stellt sie dann hundert-, tausend- oder millionenfach den Anwendern über das Internet bereit.
Schluss mit der IT-Pflege
Der größte Vorteil für die Unternehmen: Sie müssen ihre Anwendungen nicht selber warten. Die aufwendige IT-Pflege und das so genannte “Ölkännchengeschäft” entfallen. Damit bezeichnen IT-Fachleute das lästige updaten, patchen und reparieren der Soft- und Hardware. Hier ein Drucker, der nicht funktioniert, dort ein Office-Programm das streikt – damit alles gut funktioniert, geben Unternehmen heutzutage Unsummen aus. Durchschnittlich wenden Firmen pro Jahr zwischen 1000 und 3000 Euro pro PC-Arbeitsplatz alleine für die Pflege der IT auf.
Google möchte diese Ausgaben auf ein Minimum reduzieren. Hard- und Software im Paket sollen Firmen zum sensationell günstigen Preis von 28 Dollar pro Monat und Nutzer bekommen. 20 Dollar bezahlen Bildungseinrichtungen und staatliche Institutionen. Das ist ohne Frage konkurrenzlos günstig.
Doch sind wir schon soweit, um vollständig auf die Wolke umzusteigen? Das fragte sich auch Google selbst bei der Vorstellung des Betriebssystems im Mai. Eine der größten Hürden beim Einsatz von Google Chrome ist seine Abhängigkeit vom Internet. Das System ist so ausgelegt, dass sämtliche Anwendungen über das Netz bereitstehen. Offline sind die Chromebooks eigentlich nicht nutzbar. Zwar macht Google seine Hauptanwendungen wie E-Mail- und Office-Programme auch im Offline-Modus verfügbar. Doch dieser Offline-Modus ist lediglich darauf ausgelegt, kurze Ausfallzeiten zu überbrücken. Betriebe, die auf einem der vielen weißen Flecken der Landkarte beheimatet sind, an denen echtes Breitbandinternet noch nicht zur Verfügung steht, können das Cloud-Betriebssystem nicht verwenden.
Support, aber wie?
Und was ist, wenn Cloud-Anwendungen ausfallen? Wie sieht es mit dem Support aus? Googles Antwort: Es wird vollständigen Support geben. Per Telefon, Internet und E-Mail. Aber was ist, wenn der Drucker am Arbeitsplatz doch nicht mit dem Cloud-Betriebssystem zusammenarbeitet? Kommt Google dann zu mir und hilft? Und was ist mit den Kontakten auf dem Smartphone, die der Vertriebler mit der Adressdatenbank seines Chromebooks synchronisieren möchte? Funktioniert das auch, wenn man die Google-Welt verlässt und ein Nicht-Google-Smartphone benutzt? Derartige Support-Fragen aus dem täglichen IT-Alltag stellen sich bei genauerer Betrachtung zu Hunderten.
Dass vollständige und weltweite Support-Leistungen selbst für einen IT-Riesen wie Google alles andere als einfach zu handhaben sind, zeigte die Einführung des ersten Google-Handys, des Nexus One, Anfang 2010. Die eigens eingerichteten Support-Foren platzten kurz nach der Einführung aus allen Nähten. Der Konzern verwies zunächst auf den Hersteller des Gerätes, HTC, und die amerikanische T-Mobile-Tochter. Später richtete er eine eigene Hotline ein. Ob Google für seine Chromebooks weltweit einheitliche Support-Dienstleistungen bieten kann, damit die IT bis ins kleinste Detail rund läuft, bleibt abzuwarten.
Individualität braucht Pflege
Generell liegt Google mit seinem konsequenten Cloud-Ansatz wahrscheinlich richtig. Denn die wenigsten Unternehmen werden für Anwendungen wie Office & Co in einigen Jahren noch Lizenzen kaufen und die Software anschließend installieren und pflegen. Diese Applikationen kommen als Standard-IT-Ware aus der Wolke. Ob der Lieferant dann Google, Microsoft oder doch jemand anderes sein wird, bleibt offen. Wahrscheinlich ist auf diesem Markt Platz für einige wenige große Anbieter.
Doch eine weitere entscheidende Frage bleibt: Was ist mit den individuellen Anwendungen, die unseren Geschäftsbetrieb ausmachen? Dies werden sich viele Unternehmen mit Blick auf das neue Cloud-Betriebssystem fragen. Denn Firmen, egal ob Industriebetrieb oder Dienstleister, bilden heutzutage den Großteil ihrer Prozesse anhand ihrer IT ab. Ob Entwicklungsprojekte in Ingenieurbüros oder Projektmanagement bei der Einführung neuer Produkte – die meisten Unternehmen haben viel Zeit und Geld in Software investiert, die genau den Teil der Prozesse abbildet, die sie von den Mitbewerbern unterscheidet.
Derartige Anwendungen, die nicht als Cloud-Massenware zur Verfügung stehen, möchte Google virtualisiert mit seinen Partnern VMware oder Citrix abbilden. Die Applikationen sollen dann genau wie die richtigen Cloud-Programme auch im Browser bereit stehen. Somit kann theoretisch auch Googles Chrome OS die unternehmensindividuelle Software abbilden. Aber auch hier bleiben einige entscheidende Fragen offen: Wer betreibt die Anwendungen dann? Und wer ist für deren Support zuständig? Wer unterstützt Unternehmen bei der Anpassung an neue Prozesse? In der Regel können derartige Applikationen nicht als Massen-IT-Ware betrieben und gepflegt werden. Sie erfordern viel Fingerspitzengefühl für die teilweise sehr individuellen Prozesse der Unternehmen.
Weltweite Datensammlung
Ein weiterer Punkt bei der Betrachtung der Pros und Contras von Googles Betriebssystem dürfte insbesondere für Anwender aus dem europäischen Raum interessant sein: Die Frage nach dem tatsächlichen Ort der Datenspeicherung. Für personenbezogene Daten, die Rückschlüsse auf persönliche Informationen über einzelne Personen geben, gibt die EU klare Regelungen vor: Sie dürfen den EU-Raum nicht verlassen. Google jedoch betreibt seine Cloud-Infrastruktur weltweit. Wo genau geschäftskritische und personenbezogene Daten bei der Nutzung des Systems gespeichert werden, bleibt wahrscheinlich auch in der Praxis unklar.
Nichtsdestotrotz ist Googles Chrome OS keine Evolution, sondern eine Revolution im IT-Markt. Auch die Art und Weise, wie wir unsere IT nutzen, wird sich hierdurch über lang oder kurz verändern. Google eröffnet hier eine neue IT-Liga. Doch die Frage bleibt, ob der Suchmaschinenriese damit jetzt schon erfolgreich sein kann.