Die digitale Transformation hat im letzten Jahrzehnt unsere Arbeitsweise, Kaufgewohnheiten und sozialen Umgang massiv geprägt. Von Social Computing bis hin zu Virtual Reality, lag der Fokus vor allem darauf, wie wir die Wahrnehmung über unsere Welt ins Netz übertragen und mit ihr interagieren können. Dabei kristallisiert sich inzwischen klar heraus, welche digitalen Strategien erfolgreich sind.
Vor einigen Jahren ließ der indische Premierminister Narendra Modi die 100- und 500-Rupie-Scheine aus dem indischen Zahlungsverkehr entfernen. Sein Ziel: die Eindämmung von Korruption, Schwarzgeld und Schattenwirtschaft durch eine bessere Verfolgung der Geldgeschäfte durch digitale Systeme. Mit ihrer Hilfe sollten unversteuerte oder gefälschte Zahlungsmittel identifizieren werden.
Dabei hat die zwangsweise Umstellung das Land, in dem vier von fünf Kaufgeschäften bar abgewickelt wurden, in ein (digitales) Transaktionschaos gestürzt – vor allem, weil der Fokus des Verbots auf kleinen Rechnungsbeträgen lag. Die Probleme reichten von überrannten Geldautomaten bis hin zur Unmöglichkeit, alltägliche Ausgaben zu bezahlen. Krankenhausgebühren, Flugtickets, Lebensmitteleinkäufe: Der konzeptionelle Fehler: Es gab schlicht keine Geldkarteninfrastruktur, die den Wandel für große Bevölkerungsschichten ermöglicht hätte.
Es geht auch anders – aber warum?
Amazon, der Tech-Gigant aus Seattle, hat die Einkaufsgewohnheiten vieler Menschen weltweit verändert, indem er den Online-Handel revolutionierte und dem stationären Einzelhandel wirtschaftlich stark zusetzte. Seit Kurzem geht Amazon jedoch erfolgreich dazu über, ganze Ketten von Ladengeschäften wie beispielsweise Whole Foods zu übernehmen. Das Ziel: Online-Käufe mit physischen Kauferlebnissen kombinieren.
Beim Vergleich beider Beispiele, drängen sich Fragen auf: Liegt ein Schlüssel zu erfolgreichen digitalen Erlebnissen darin, eine Verbindung zum Physischen aufrechtzuerhalten? Und wenn ja, in welcher Weise? In diesem Zusammenhang scheint es drei Möglichkeiten zu geben, digitale Initiativen und reale physische Erfahrungen zu integrieren:
• Das Angebot eines digital-physikalischen Platzhalters
• Die Verbesserung bestehender physischer Erlebnisse
• Die Verringerung von Einschränkungen in der echten Welt durch zusätzliche digitale Erlebnisse.
Der digitale Platzhalter
Am Beispiel der indischen Währung war der limitierende Faktor ein adäquater Ersatz oder Proxy für simple Bargeschäfte. Viele Inder verfügten einfach noch über kein Bankkonto und -karten. Das war letztlich ein Grund, der den Premierminister dazu veranlasst hatte, das Verbot überhaupt erst zu verhängen – und stellte gleichzeitig eine große inhärente Hürde für dessen Umsetzung dar: Es gab schlicht zu viele wirtschaftliche Transaktionen, die nicht verfolgt, nicht aufgezeichnet und mit potenziell gefälschter Währung durchgeführt wurden. Es war jedoch keine leicht verfügbare Alternative für physische Bartransaktionen verfügbar – insbesondere für die Bevölkerung ohne Bankkonto.
Elektronische Zahlungsanbieter wie Square, PayPal und Humaniq tragen dazu bei, viele der oben dargestellten Schwierigkeiten bei Zahlungs-und Bankanwendungen zu bewältigen. Der springende Punkt ist hier, dass sie genau solche digitalen Technologien in einer Weise implementieren, die einen Platzhalter für ein altbekanntes, reales physisches Erlebnis und Erfahrung darstellt. Dabei zeigt sich deutlich, dass physische Proxys eine Option zur Umsetzung erfolgreicher digitaler Transformationen sind.
Verbesserung bestehender physischer Erlebnisse
Ein weiteres Erfolgskriterium ist die Verbesserung physischer Erlebnisse durch digitale Erlebnisse. Zum Beispiel hat der japanische Lebensmittelhändler Meiji kürzlich die Möglichkeit eingeführt, mit dem Smartphone einzukaufen. Dazu müssen vor dem Verlassen des Ladens einfach Strichcodes gescannt werden. Dieses digitale Erlebnis, das über eine simple App bereitgestellt wird, verbessert das gesamte Einkaufserlebnis erheblich. Dabei ermöglicht es Käufern im Grunde einfach nur die Kasse zu umgehen.
Ein zweites Beispiel für eine solche physisch-digitale Lösung findet sich auch in Chicago. Die Stadt stellt für prominent platzierte Kunstinstallationen digitale Begleiter zur Verfügung. Besucher können dort über einen QR-Code auf der Beschilderung zusätzliche Informationen zum Kunstwerk abrufen – ein maßgeschneiderter digitaler Kunstführer sozusagen. Für alle Interessierten findet sich die Liste als Anregung auch online auf der Website der Chicago Tribune.
Einschränkungen der realen Welt durch zusätzliche digitale Erlebnisse umgehen
Reale physische Erfahrungen sind ein Schlüsselelement, und doch haben sie naturgemäß Grenzen. Daher sollten erfolgreiche digitale Initiativen darauf abzielen, solche Hindernisse abzubauen. So haben beispielsweise Microsoft, Accenture und Avanade gemeinsam mit Italiens größtem Lebensmittelhändler Coop Italia das Konzept des „Supermarkt der Zukunft“ entwickelt. Der 2015 für die Expo Mailand gebaut Markt verwendete handelsübliche Sensoren wie Kinect von Microsoft sowie Cloud-basierte kognitive Dienste, um die Interaktion der Kunden mit dem realen, also anfassbaren Einkaufsbereich zu verändern: Zeigte ein Kunde auf Produkte, ergriff oder betrachtete sie, haben die Sensordaten von Kinect-fähigen maschinellen Lernmodellen detaillierte Produktinformationen an digitale Displays gesendet. Die Spanne reichte von Zutaten über Nährwertinformationen bis hin zur CO2-Bilanz – oder einem Vorschlag für eine Kombination von Weinen. Diese Displays erweiterten also die physischen Grenzen. Dabei wurde elegant eine weitere Herausforderung gelöst: Das Konzept reduzierte ganz erheblich den Aufwand, Preisschilder stets aktuell zu halten.
Ein weiteres Beispiel aus einer anderen Branche ist die Ausbildung von Ärzten. Die Medizin erfordert sowohl tiefes Wissen als auch Erfahrung bei der Behandlung von Krankheiten. Insgesamt ist es unsicher, Scharen ungeschulter Ärzte am Menschen üben zu lassen; die Begleitung auf Schritt und Tritt durch ausbildende Mediziner ist aufwändig und damit teuer sowie qua Personalmangel immer schwerer zu gewährleisten. Die Hololens bietet als digitale Erweiterung der realen Welt die Möglichkeit, über einen speziellen Gesichtsbogen virtuelle und reale Objekte in einer „Ansicht“ zu kombinieren. So kann die Microsoft-Lösung zahlreiche Zustände nachbilden, die es Ärzten ermöglichen, sowohl Erkrankungen zu diagnostizieren als auch eine Behandlung zu simulieren, ohne Patienten zu gefährden.
Drei hilfreiche Herangehensweisen
Viele digitale Initiativen benötigen nach wie vor das reale physische Erlebnis – es ist immer noch ein Schlüssel zum (digitalen) Erfolg. Die Beantwortung einiger grundlegender Fragen hilft dabei, digitale Initiativen auf mögliche Mehrwerte durch reale Erlebnisse zu prüfen:
• Journey Maps sind ein Werkzeug, mit dem Unternehmen herausfinden können, wie eine Nutzergruppe mit der digitalen Lösung interagieren kann. Dieses Tool hilft, verschiedene Dimensionen sowie den Kontext der Gruppe zuzuordnen.
• Design Thinking hilft, Probleme und Lösungen zu formulieren und zu klären. Es verwendet Techniken, die sich besonders für schlecht definierte oder knifflige Themen und Probleme eignen.
• Tests sind beim Experimentieren mit digital-physikalischen Erfahrungen besonders wichtig. Insbesondere mit Rapid Prototyping kombinierte Tests ermöglichen es, die Dynamik einer avisierten Lösung besser zu verstehen und potenzielle Erfolgskriterien zu identifizieren, die bisher vielleicht noch nicht berücksichtigt wurden.
Speziell mit Blick zurück auf das gescheiterte indische Zahlungsprojekt wird deutlich, wie wichtig diese drei Ansätze sind. Daher meine Bitte: Beherzigen Sie sie – es wäre schade um den Aufwand und vor allem Gift für die Motivation aller Beteiligten.