Von der Inneneinrichtung bis zur Flughafennavigation – wie weit dringt AR in unsere Lebensbereiche vor? Danielle Levitas, Leiterin des Forschungs- und Analyse-Teams bei App Annie, gibt für silicon.de einen Ausblick.
In unserer technisierten Welt die Spreu vom Weizen zu trennen, kann vor allem bei Trends schwierig sein. Manche halten sich über Jahre und sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken, beispielsweise die Cloud-Technologie. Andere legen auf den ersten Blick ein großes Debut hin, um dann ganz leise wieder zu verschwinden (wie das 3D-Fernsehen). Hin und wieder taucht jedoch eine Technologie auf und recht schnell wird klar, dass sie das Potenzial hat, unser tägliches Leben zu beeinflussen. Erweiterte Realität, meistens eher als AR (Augmented Reality) bekannt, ist so ein Fall.
Mit dem Release von Pokémon Go 2016 als mobile App, dem meist heruntergeladenen Spiel aller Zeiten, wurde diese Technologie einer breiten Masse bekannt. Das Spiel stellte für viele Menschen den ersten Berührungspunkt mit AR dar.
Funktional lässt sich AR als ein computergeneriertes Bild beschreiben, das über die reale Welt gelegt wird. Derzeit geschieht das in der Regel über die Kamera des Smartphones. In Presseberichten muss AR oft mit der verwandten Technologie der virtuellen Realität (VR) um Aufmerksamkeit buhlen. Langfristig wird sich jedoch eher AR in der breiten Massenanwendung durchsetzen.
Denn für VR ist eine teure Ausstattung von Headsets über Controller bis zum leistungsstarken Prozessor nötig. Gleichzeitig ist man dabei vom Rest der Welt abgeschnitten. Schwer vorstellbar, mit solch einer Menge an Equipment jeden Tag herumzulaufen. AR jedoch funktioniert über die mobilen Apps der Nutzer, ergänzt die reale Umgebung und fördert die Interaktivität mit ihr.
Mit einem prognostizierten Anstieg der im Umlauf befindlichen Smartphones auf 6 Milliarden bis zum Jahr 2021 und auch weil die Anwender heute bereits im Durchschnitt 2 Stunden pro Tag mit Apps verbringen, scheint es nur logisch, AR in die Mobilgeräte zu integrieren.
Die Mühen des Einzelhandels zahlen sich aus
Bereits jetzt hat Mobile den Einzelhandel verändert. Angefangen vom Vergleichen der Preise online – das sogenannte Showrooming -, dem Nachlesen von Produktbewertungen oder einfachen Wegbeschreibungen; Mobilanwendungen gehören mittlerweile so selbstverständlich zum Einkaufen dazu wie die Handtasche oder das Portemonnaie. Selbst letzteres büßt immer mehr seine Funktion gegenüber Mobilgeräten ein. Das alles spiegelt sich auch in den Statistiken wieder, die diese Entwicklung belegen. Im Laufe der letzten 12 Monate ist die insgesamt mit Android Apps von Online-First-Einzelhändlern verbrachte Zeit um über 50 Prozent angestiegen.
Wie die Technologie bereits eingesetzt wird, zeigt sich anhand einiger interessanter Beispiele. So hat IKEA mittlerweile eine App veröffentlicht, mit der die Nutzer sehen können, ob und wie ein Möbelstück in ihrem Zuhause wirken würde. Die Vorteile liegen für Einzelhändler aller Sparten dabei klar auf der Hand. Vom Anprobieren der Kleidungsstücke, über das Finden der richtigen Schuhgröße oder um schon vorher zu wissen, wie verschiedene Wandfarben in der Wohnung wirken würden – mit AR bietet sich ein breites Feld an Möglichkeiten, sowohl das Einkaufserlebnis als auch die gesamte User-Journey zu verändern.
Stellen Sie sich vor, Sie würden in ein Geschäft gehen und müssten lediglich Ihr Smartphone hochhalten und werden dann direkt direkt zum gewünschten Produkt geführt. Dort angekommen lesen Sie über eine App auf Ihrem Smartphone Bewertungen, Preisvergleiche und Empfehlungen. Mit AR erhält das Einzelhandelserlebnis eine zusätzliche Dimension, mit der die Online-Welt sich über die reale Welt legt. Spätestens jetzt wird klar, dass die Folgen von AR ein weiterer Anstieg der Zeit, die die Nutzer mit Retail-Apps verbringen, sein werden.
Zeit für Reisen
Apps sind auch ein zunehmend wichtiger werdender Bestandteil des Reiseerlebnisses. Das Smartphone trägt die Bordkarte in sich, findet Restaurants, unterstützt bei der Buchung von Unterkünften oder hilft dabei, kurze Sätze schnell zu übersetzen. Die meisten Menschen würden mittlerweile nicht im Traum daran denken, während einer Reise ihr Smartphone zuhause zu lassen. Diese Entwicklung stützt sich auf Zahlen, die unsere Beobachtung bestätigt: Von 2014 bis 2016 stiegen die Downloadzahlen für Reise-Apps um 50 Prozent. Dank AR dürfte dieses Wachstum noch weiter zunehmen.
Bereits jetzt ist das Smartphone DER Reisebegleiter. Mit AR erhält das Handy jedoch noch eine zusätzliche praktische Komponente als Reise-Tool. Stellen Sie sich vor, wie es Ihre Reise verändern würde: AR leitet Sie in Echtzeit durch den Flughafen und findet den kürzesten und besten Weg.
Der Flughafen Gatwick erprobt übrigens bereits diese Art der Technologie. Dafür wurden die beiden Terminals mit etwa 2000 batteriebetriebenen Ortungsgeräten ausgestattet, wodurch der “blaue Navigationspunkt” noch genauer wird. Zusätzlich wurde mit Pointr zusammengearbeitet, einem britischen Start-up, das ein Software-Entwicklungskit mit Unterstützung für ein 3D-AR-Leitsystem auf den Markt gebracht hat. Es dürfte also nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Navigation via Smartphones noch besser und einfacher funktionieren wird.
Am Zielort findet dann der gleiche Prozess noch einmal statt. Man kommt aus dem Flughafen heraus, das Smartphone zeigt in Echtzeit den richtigen Weg, um das Reiseziel entspannt zu erkunden. Mit Google Translate können Sie bereits Ihre Handy-Kamera nutzen, um zwischen verschiedenen Sprachen umzuschalten.
Aber der Fortschritt macht hier nicht Halt. In Verbindung mit anderen AR-Technologien werden Apps in der Lage sein, sichere Wege durch Städte zu finden, dabei Wissenswertes zu den Sehenswürdigkeiten anzuzeigen, an denen man gerade vorbeigeht. Gleichzeitig werden Restaurants vorgeschlagen, die zu den eigenen Bedürfnissen und Vorlieben passen. Anders ausgedrückt: während sich der Nutzer dank Smartphone bereits jetzt auf fremdem Boden bewegt wie ein Ortsansässiger, hilft AR dabei, die Umgebung auch wie ein Einheimischer zu sehen.
Dürfen wir vorstellen: Marketing, AR
Eine weitere Branche, die von den Möglichkeiten der AR profitieren wird, ist das Marketing. Die richtige Person zum passenden Zeitpunkt zu erreichen ist die Hauptaufgabe der Branche. Hierbei eignet sich AR hervorragend. Nutzt jemand beispielsweise eine AR-App in einem Ladengeschäft, kann die Person auf bestimmte, in diesem Moment relevante Produkte und Angebote, gezielt hingewiesen werden.
Die Händler können also Informationen anbieten, die Verbrauchern tatsächlich gefallen und ihnen einen Mehrwert bieten. Das gesamte Einkaufserlebnis wird dadurch optimiert.Gleichzeitig versorgt die Nutzung von AR über Apps bei dem zu erwartenden Anstieg aktiver Smartphone-Nutzungsdauer die Händler mit einem wertvollen Gut: Daten.
Die effizienteste Nutzung von AR ergibt sich aus der Kombination des digitalen mit dem realen. Ebenso versuchen auch die Nutzer beide Welten zu verbinden. Für den Einzelhandel bietet sich dadurch die Gelegenheit mit den Nutzern auf natürliche Art und Weise in Kontakt zu treten.
So weit, so AR
In absehbarer Zeit werden AR-Funktionen so selbstverständlich wie SMS und Anrufe sein. Die Technologie birgt dabei das Potenzial, einen großen Einfluss auf unser tägliches Leben zu nehmen, ob beim Einkauf, beim Reisen oder im restlichen Alltag. Im Mittelpunkt stehen dabei die Smartphones. Während für andere immersive Technologien teures Equipment nötig ist, braucht es für AR nur ein Smartphone und eine App.
Die potenziellen Anwendungen für AR sind durchaus spannend. Damit sie sich rasch etablieren können, ist es nötig, dass AR als praktische Funktion kompetent vermarktet wird und nicht nur als lustiges Gimmick für Spiele in Erscheinung tritt.